Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 01.10.2024, Az. III-3 ORs 59/24

Mein Mandant wurde vom Amtsgericht Bielefeld wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von vier Monaten zur Bewährung verurteilt. Die eingelegte Sprungrevision hatte Erfolg.

Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten nur bei besonderen Umstände. Der Gesetzgeber wollte kurze Freiheitsstrafen auf Ausnahmefälle beschränken.

Ein solcher Ausnahmefall ist nach Würdigung des Oberlandesgerichtes auch bei zwei Taten innerhalb von nur zwei Monaten bei einem nicht vorbestraften Angeklagten nicht gegeben.

III-3 ORs 59/24 OLG Hamm
6 SRs 288/24 GStA Hamm
821 Ds 30/24 AG Bielefeld
402 Js 679/24 StA Bielefeld

Im einzelnen führt das oberstes Landesgericht folgendes aus:

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten vom 02. Juli 2024 gegen das Urteil des Amtsgerichtsstrafrichter Bielefeld vom 01. Juli 2024 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 01. Oktober 2024 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht,

den Richter am Oberlandesgericht und

den Richter am Landgericht

nach Anhörung bzw. auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Angeklagten bzw. seines Verteidigers einstimmig beschlossen:

2

1. Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen

  1. im Schuldspruch hinsichtlich der Tat vom 07. Oktober 2023 und
  2. im gesamten Rechtsfolgenausspruch
    aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung — auch über die Kosten der Revision — an eine andere als Strafrichter zuständige Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 01. Juli 2024 wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Zugleich ist ihm die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen worden, dem Angeklagten vor Ablauf von 12 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.

Gegen dieses in Anwesenheit des Verteidigers sowie des Angeklagten verkündete Urteil hat der Angeklagte mit am 02. Juli 2024 beim Amtsgericht Bielefeld eingegangenem Schriftsatz seines Verteidigers vom selben Tage Rechtsmittel eingelegt, welches er — nachdem ihm am 24. Juli 2024 die schriftlichen Urteilsgründe zugestellt worden waren — mit beim Amtsgericht Bielefeld noch am selben Tage eingegangenem Schriftsatz vom 24. Juli 2024 als Revision konkretisiert und zugleich mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts begründet hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 335 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Sprung­revision des Angeklagten führt auf die — in der Sache allein erhobene — Sachrüge hin gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 S. 1 StPO im tenorierten Umfang zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld.

1.

Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (Tat vom 07. Oktober 2023, Ziffer II. a) des Urteils) kann nicht bestehen bleiben, weil die Feststellungen des Amtsgerichts die für die Annahme einer Tat nach § 315c Abs. 1 Nr. la, Abs. 3 Nr. 2 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht tragen.

  1. Nach gefestigter Rechtsprechung muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der — was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiV nachträglichen Prognose zu beurteilen ist — die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (st. Rspr.; vgl. BGH Beschl. v. 2.2.2023 — 4 StR 293/22, BeckRS 2023, 3906 Rn. 2, beck-online mwN; zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 — 4 StR 155/21, juris Rn. 5 mwN).
  2. Nach den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entwickelten Maßstäben genügen die hierauf bezogenen knappen Bemerkungen des Amtsgerichts — „infolge seiner alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit geriet der Angeklagte in den Gegenverkehr und gefährdete hierdurch die Insassen des ihm entgegenkommenden Fahrzeuges, welches auf den Seitenstreifen ausweichen musste“ — nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr. Einen Vorgang, bei dem es beinahe zu einem Unfall gekommen wäre, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH Urt. v. 30. 3. 1995 und Beschl. v. 4. 9. 1995 — jew. aaO; Beschl. v. 26. 7. 2011 — 4 StR 340/11, StV 2012, 217; NStZ 2013, 167, beck-online), hat das Amtsgericht auch nach dem Gesamtzusammenhang ihrer auf das Unfallgeschehen bezogenen Feststellungen — auch soweit man die diesbezüglichen Ausführungen in der Beweiswürdigung (S. 4 UA) mit in die Betrachtung einbezieht, nicht hinreichend mit Tatsachen belegt, so dass die Schlussfolgerung des Amtsgerichts auf das Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandmerkmals nicht nachvollzogen werden kann. Insbesondere fehlen tatsachenfundierte, . konkretisierende Angaben die einen „Beinahe“-Unfall im Sinne der Vorgaben der Rechtsprechung zu den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Zeitpunkt der „Beinahe“-Kollision, etwaige Angaben zur Intensität der drohenden Kollision bzw. Angaben zu Entfernungen der einzelnen Gefährdungsobjekte zueinander (vgl. BGH Beschl. v. 20. 10. 2009 — 4 StR 408/09).
  3. Schließlich lassen sich den Feststellungen in subjektiver Hinsicht auch keine Ausführungen zur fahrlässigen Herbeiführung ebenjener konkreten Gefahr entnehmen.

2.

Die Aufhebung des Schuldspruchs bezüglich der Tat vom 07. Oktober 2023 zieht die Aufhebung des zugehörigen Einzelstrafenausspruchs sowie des Gesamt- und Maßregelausspruchs nach sich.

3.

Auch der Einzelstrafenausspruch bezüglich der Tat vom 10. Dezember 2023 hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

  1. Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatgerichts; ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt (BGH, Urteil vom 16. April 2015 — 3 StR 638/14 —, juris; Urteil vom 2. Februar 2017 —4 StR 481/16 —, juris; Urteil vom 24. Juni 2021 — 5 StR 545/20 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 18. November 2002 — 2 Ss 768/02 —, juris; Beschluss vom 1. März 2018 — 111-5 RVs 129/17          juris). Dabei muss die Begründung des Urteils erkennen lassen, dass die wesentlichen Gesichtspunkte gesehen und in ihrer Bedeutung und ihrem Zusammenwirken vertretbar gewürdigt wurden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22. September 2016 —111-5 RVs 68/16 —, juris). Hiervon ausgehend stellt sich — wie von der Verteidigung zu Recht beanstandet worden ist — die Anwendung des § 47 Abs. 1 StGB als rechtfehlerhaft dar, so dass der Rechtsfolgenausspruch bereits aus diesem Grunde keinen Bestand haben kann.
  2. Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Zur Verteidigung der Rechtsordnung ist die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe erforderlich, wenn ein Verzicht auf selbige im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte

(BGH, Beschluss vom 11. Januar 2001 — 5 StR 580/00 —, juris; Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 47, Rn. 14). Dabei ergeben sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers für eine Beschränkung der kurzen Freiheitsstrafe auf Ausnahmefälle besondere Anforderungen an die Begründung der Sanktionsentscheidung im tatgerichtlichen Urteil (vgl. KG Berlin, Urteil vom 9. Dezember 2003 — (5) 1 Ss 404/03 (69/03) —, juris). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich auf Grund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2018 — III-5 RVs 129/17 —, juris). Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft werden kann, bedarf es mithin einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (OLG Hamm, a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 18. Februar 2003 — Ss 36/03 —, juris). Das Urteil muss dazu eine auf den Einzelfall bezogene, die Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit umfassende Begründung dafür enthalten, warum eine kurzzeitige Freiheitsstrafe unerlässlich ist; dabei muss die Begründung auch erkennen lassen, dass das Gericht sich der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewusst gewesen ist und die besondere Härte der kurzen Freiheitsstrafe im Vergleich zur Geldstrafe in seine Erwägungen einbezogen hat (OLG Hamm, a.a.O.). Formelhafte Wendungen genügen nicht; vielmehr hat der Tatrichter für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen, welche besonderen Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Angeklagten die Verhängung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Angeklagten oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich gemacht haben (OLG Hamm, a.a.O.). Angesichts dessen darf – obgleich bei wiederholter Rückfälligkeit geringere Anforderungen an die Begründungspflicht zu stellen sind (OLG Köln, a.a.O.; von

Heintschel-Heinegg in: BeckOK, StGB, 55. Edition Stand 01.11.2022, § 47, Rn. 4) ­auch aus einschlägigen Vorstrafen und Bewährungsbrüchen nicht schematisch auf

die Unerlässlichkeit im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB geschlossen werden (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.04.2012 — 2 (7) Ss 117/12 — AK 50/12, BeckRS 2012, 23871; Kinzig, a.a.O., Rn. 10; von Heintschel-Heinegg, a.a.O., Rn. 12).

c) Diesem Maßstab werden die knappen Ausführungen im angefochtenen Urteils zur Begründung der kurzen Freiheitsstrafe — „Dabei war hinsichtlich der Tat am 10.12.2023 die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 Abs. 1 StGB zur Einwirkung auf den Angeklagten unerlässlich, weil er die Taten nur ca. 2 Monate nach der ersten Tat begangen hat.“ (BI. 5 UA) — nicht gerecht. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Angeklagten bislang und auch bei Tatbegehung nicht vorbestraft war und die Annahme eines Anwendungsfalls des § 47 Abs. 1 StGB aufgrund der sich aus dem Urteil ergebenden sonstigen Umstände im vorliegenden Fall sich ebenfalls nicht aufdrängt.

4.

Die weitergehende Revision war — soweit mit der allgemeinen Sachrüge auch der Schuldspruch im Hinblick auf die Tat vom 10. Dezember 2023 — angegriffen worden ist, als unbegründet zu verwerfen, da die Nachprüfung des Urteils insoweit auch auf Grundlage der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben hat, § 349 Abs. 2 StPO.

5.

Der neue Tatrichter wird im Rahmen der erneuten Verhandlung und Entscheidung im Hinblick auf die Tat vom 07. Oktober 2023 angesichts der hohen Alkoholisierung sowie der geltend gemachten Erinnerungslücken das Vorliegen einer tatzeitbezogenen erheblich verminderten Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB zumindest zu erwägen haben.