Gericht muss Sachverständigen hinzuziehen – auch bei eigener Erfahrung

BGH, Beschluss vom 19.03.2025 – 3 StR 603/24 (LG Kleve)

Kernaussage

Wenn eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB ernsthaft in Betracht kommt, muss das Gericht einen Sachverständigen vernehmen (§ 246a Abs. 1 S. 2 StPO). Eigene Erfahrung oder „Sachkunde“ der Richter ersetzt diese Verpflichtung nicht.

Der Fall

Der Angeklagte konsumierte seit rund 20 Jahren Rauschgift, hatte bereits eine drogeninduzierte Psychose und verlor seinen Arbeitsplatz durch Drogenmissbrauch. Die Taten dienten teils der Finanzierung seines Konsums.

Das Landgericht lehnte eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ab – ohne Gutachter.

Zur Begründung führte es aus: Angaben des Angeklagten zum Konsum seien vage, Art und Menge der Drogen nicht sicher feststellbar. Es sei nicht erkennbar, dass die Taten „überwiegend“ auf seinen Hang zurückgingen, da auch Lebensunterhalt finanziert wurde. Eine Therapie habe er bisher nicht versucht, daher fehle es an Erfolgsaussicht. Die Berufsrichter verfügten aufgrund langjähriger Tätigkeit in einer Strafvollstreckungskammer über eigene Sachkunde, weshalb ein Sachverständiger nicht erforderlich sei. Der Angeklagte legte Revision ein und hatte Erfolg.

Die Entscheidung

Der BGH hob das Urteil insoweit auf, als das LG die Unterbringung nach § 64 StGB abgelehnt hatte.

Begründung: Nach § 246a Abs. 1 S. 2 StPO ist das Gericht verpflichtet, einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn die Maßregel ernsthaft erwogen wird. Eine Ausnahme gilt nur in klaren Evidenzfällen, also wenn ein Hang oder eine Erfolgsaussicht offensichtlich ausgeschlossen sind. Eine eigene „Erfahrung“ des Gerichts reicht niemals als Ersatz. Im konkreten Fall hatte das LG die Maßregel ausdrücklich geprüft und diskutiert. Damit bestand die Pflicht zur Einholung eines Gutachtens. Dass der Angeklagte unklare Angaben machte oder keine Therapie begonnen hatte, entbindet das Gericht nicht von dieser gesetzlichen Pflicht.

Warum ist das wichtig?

Die Unterbringung nach § 64 StGB ist eine Therapiemaßnahme und kein Strafbonus.

Sie setzt voraus: einen Hang zum Rauschmittelkonsum, einen Zusammenhang zwischen Hang und Tat sowie eine realistische Erfolgsaussicht.

Diese Voraussetzungen dürfen nicht „aus dem Bauch heraus“ beurteilt werden.

Ein Gericht muss dafür fachmedizinische Expertise einholen, sobald eine Maßregel ernsthaft im Raum steht.

Der BGH stärkt die Rechte von Angeklagten mit Suchterkrankungen.

Gerichte dürfen eine Therapieunterbringung nicht allein deshalb ablehnen, weil der Betroffene seine Sucht nicht perfekt schildern kann oder bisher keine Therapieerfahrung hat.

Ist eine Unterbringung realistisch denkbar, muss ein Sachverständiger gehört werden. Alles andere ist ein Verfahrensfehler.

Verbindungsbeschluss ersetzt keinen Eröffnungsbeschluss

BayObLG, Beschluss vom 04.08.2025 – 203 StRR 276/25

Kernaussage

Eine bloße Verbindungsentscheidung ersetzt nicht den erforderlichen Eröffnungsbeschluss nach § 207 StPO. Das Gericht muss für jede einzelne Anklage ausdrücklich oder eindeutig erkennbar prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt.

Fehlt diese Entscheidung, liegt ein Verfahrenshindernis vor.

Der Fall

Gegen den Angeklagten lagen insgesamt drei verschiedene Anklagen vor. Wegen Diebstahls und wegen unerlaubten Herstellens von Cannabis in nicht geringer Menge. Für eine dieser Anklagen (Tat vom 04.03.2024) hatte das Amtsgericht Erlangen bereits einen Eröffnungsbeschluss erlassen. Die beiden anderen Verfahren wurden nur durch Verbindungsbeschlüsse mit dem führenden Verfahren zusammengeführt. Ein eigener Eröffnungsbeschluss für diese hinzuverbundenen Verfahren erfolgte nicht. Trotzdem wurde der Angeklagte in allen verbundenen Fällen verurteilt. Nach erfolgloser Berufung legte er Revision ein.

Die Entscheidung

Das BayObLG hob das Urteil teilweise auf.

Die Verurteilung konnte nur hinsichtlich der Tat Bestand haben, für die ein wirksamer Eröffnungsbeschluss vorlag.

Für die übrigen Taten stellte das Gericht fest: Ohne Eröffnungsbeschluss fehlt eine zwingende Prozessvoraussetzung. Ein Verbindungsbeschluss genügt nicht, auch dann nicht, wenn das Hauptverfahren im führenden Verfahren bereits eröffnet war. Das Gericht muss klar erkennen lassen, dass es jede einzelne Anklage geprüft und den hinreichenden Tatverdacht bejaht hat. Das BayObLG schloss sich dabei der ständigen Rechtsprechung des BGH an. Folge: Für alle nicht eröffneten Verfahren liegt ein Verfahrenshindernis vor. Diese Teile des Verfahrens mussten eingestellt werden (§ 206a StPO).

Warum ist das wichtig?

Der Eröffnungsbeschluss ist die juristische Eintrittskarte für die Hauptverhandlung.

Ohne ihn darf ein Gericht nicht urteilen.

Dieses Urteil macht klar: Eine Verfahrensverbindung ersetzt keine Eröffnungsentscheidung. Jede Anklage braucht entweder einen ausdrücklichen oder einen eindeutig erkennbaren konkludenten Eröffnungsbeschluss. Fehlt er, sind Urteile in diesen Teilen von Amts wegen aufzuheben. Für Beschuldigte bedeutet das:

Ein genauer Blick in die Akte kann gravierende Verfahrensfehler aufdecken, mit der Folge, dass Verfahren eingestellt werden müssen.

Das BayObLG schafft hier wichtige Klarheit für die Praxis:

Gerichte müssen sorgfältig dokumentieren, dass sie die Eröffnungsvoraussetzungen wirklich geprüft haben. Gerade in Fällen mit mehreren Anklagen oder verbundenen Verfahren lohnt sich für die Verteidigung immer eine genaue Analyse der Eröffnungsentscheidungen.

Kein Drogenvortest über Umweg – Freiwilligkeit darf nicht ausgehebelt werden

AG Suhl, Urteil vom 18.03.2025 – 2 OWi 310 Js 2684/25

Kernaussage

Wenn ein Betroffener einen freiwilligen Drogenvortest verweigert, darf die Polizei keine Umgehungsstrategien anwenden, etwa indem sie Gegenstände, die der Fahrer zwangsläufig aushändigen muss (z. B. den Führerschein), für einen ungefragten Wischtest nutzt.

Solche Testergebnisse sind unverwertbar.

Der Fall

Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, ein Kraftfahrzeug unter Einfluss von Betäubungsmitteln geführt zu haben.

Bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle stellten die Beamten gerötete Augen und leicht verengte Pupillen fest. Ein freiwilliger Atemalkoholtest war negativ. Einen freiwilligen Drogenvortest lehnte der Betroffene ausdrücklich ab. Daraufhin führten die Beamten ohne Zustimmung einen Drogenoberflächentest mit dem Führerschein des Betroffenen durch. Einem Dokument, das er ihnen ohnehin aushändigen musste. Dieser Test zeigte ein positives Ergebnis auf Kokain und Amphetamin. Anschließend wurde eine Blutentnahme angeordnet. In der Hauptverhandlung widersprach die Verteidigung der Verwertung der toxikologischen Untersuchung.

Die Entscheidung

Das Amtsgericht Suhl folgte der Argumentation der Verteidigung und entschied:

Der Wischtest mit dem Führerschein war unzulässig, da dadurch die Freiwilligkeit eines Vortests umgangen wurde. Die Ergebnisse des Bluttests sind nicht verwertbar, weil sie auf einer rechtswidrigen Begründung beruhen. Die körperlichen Anzeichen (gerötete Augen, Pupillengröße von 3 mm) reichten nicht als Verdachtsmomente aus, um eine Blutentnahme zu rechtfertigen. Damit fehlten sämtliche verwertbaren Beweise für einen Konsum von Betäubungsmitteln. Der Betroffene wurde freigesprochen.

Warum ist das wichtig?

Das Urteil stärkt die Rechte von Verkehrsteilnehmern: Ein Drogenvortest bleibt freiwillig. Die Polizei darf negative Entscheidungen nicht durch „Tricks“ wie den Test von Ausweisdokumenten umgehen. Blutentnahmen benötigen echte, tragfähige Verdachtsmomente und keine bloßen Mutmaßungen. Für Betroffene bedeutet das:

Wer seine Rechte kennt, kann sich erfolgreich gegen unzulässige Ermittlungsmaßnahmen wehren.

Dieses Urteil schafft wichtige Klarheit für Ordnungswidrigkeitenverfahren nach § 24a StVG und stärkt die Verhältnismäßigkeit im Straßenverkehrsrecht.

Wenn bei einer Kontrolle fragwürdige Tests durchgeführt wurden oder eine Blutentnahme nicht rechtmäßig angeordnet wurde, bestehen oft gute Chancen auf einen Freispruch.

Falsche Verdächtigung: keine Strafbarkeit bei erfundenen Personen

BayObLG, Beschluss vom 7. April 2025 – 203 StRR 93/25 (AG Schwabach)

Was passiert, wenn jemand in einem Ermittlungsverfahren behauptet, eine andere Person sei der oder die Schuldige und sich später herausstellt, dass diese Person gar nicht existiert? Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hat in einem aktuellen Beschluss klargestellt: Eine Strafbarkeit wegen falscher Verdächtigung (§ 164 StGB) kommt in einem solchen Fall nicht in Betracht.

Der Fall

Ein Mann hatte in einem Bußgeldverfahren gegenüber der Polizei angegeben, ein Bekannter namens „T“ habe das Fahrzeug zur Tatzeit gefahren. Diese Person sollte sogar regelmäßig an seiner Wohnanschrift erscheinen. Die Behörde leitete daraufhin Schritte ein, um den angeblichen Bekannten anzuhören.
In der Hauptverhandlung gestand der Angeklagte jedoch, dass diese Person überhaupt nicht existiere. Das Amtsgericht Schwabach verurteilte ihn trotzdem wegen falscher Verdächtigung zu einer Geldstrafe, mit der Begründung, dass die Behörde durch seine Angaben unnötig Arbeit gehabt habe.

Die Entscheidung des Gerichts

Das BayObLG hob das Urteil auf. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass sich der Tatbestand der falschen Verdächtigung nur auf existierende oder zumindest bestimmbare Personen bezieht. Wer eine erfundene oder bereits verstorbene Person beschuldigt, macht sich nach § 164 StGB nicht strafbar.
Auch der Hinweis des Amtsgerichts auf den „unnützen Verwaltungsaufwand“ ändere daran nichts. Dieser Aspekt sei für den Straftatbestand unerheblich.

Zudem beanstandete das BayObLG die Beweiswürdigung: Das Amtsgericht hätte genauer prüfen müssen, ob die angeblich beschuldigte Person tatsächlich existiert. Es hätte entsprechende Ermittlungen anordnen müssen, bevor es von einer bloßen „Schutzbehauptung“ des Angeklagten ausgehen durfte.

Was bedeutet das für die Praxis?

Das Urteil verdeutlicht: Eine Verurteilung wegen falscher Verdächtigung setzt voraus, dass jemand eine wirklich existierende Person einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit bezichtigt.
Zugleich betont das Gericht, dass Richter verpflichtet sind, zweifelhafte Sachverhalte vollständig aufzuklären – persönliche Überzeugung reicht für eine Verurteilung nicht aus.

BUNDESGERICHTSHOF, Beschluss vom 05.06.2025, Az. 4 StR 11/25

Das Landgericht Bielefeld hatte die Unterbringung meines Mandanten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen eingelegte Revision hatte teilweise Erfolg. Die nach § 63 Satz 1 StGB gestützte Anordnung hielt der revisions­rechtlicher Überprüfung nicht stand. Bemängelt wurden, dass die Gefährlichkeitsprognose vom Landgericht nicht ausreichend begründet wurde.

Es muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft wei­tere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird.

Bei Grenzfällen – wie im hiesigen Verfahren – seien an die Darlegungen höhere Anforderungen zu stellen.

Im einzelnen führt der Bundesgerichtshof folgendes aus:

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 5. Juni 2025 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landge­richts Bielefeld vom 6. September 2024 unter Aufrechterhaltung der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den Feststellungen beging der seit 1997 an einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie (IDC-10: F20.0) erkrankte Beschuldigte in der Zeit vom 15. Dezember 2022 bis zum 2. Dezember 2023 jeweils im Zustand einer akuten Psychose insgesamt achtzehn rechtswidrige Taten, bei denen seine Ein­sichtsfähigkeit nicht ausschließbar und für den Fall ihrer Gegebenheit aber seine Steuerungsfähigkeit aufgrund einer ausgeprägten Impulskontrollstörung sicher aufgehoben war. Im Einzelnen ereigneten sich folgende Taten:

a) In insgesamt 14 Fällen (Taten II. 1. bis 5., 7., 9., 11., 13. bis 18.) ent­wendete der Beschuldigte im Tatzeitraum Bedarfsgegenstände des täglichen Le­bens (Bekleidung, Lebensmittel, Unterhaltungselektronik, Werkzeug), Geldbe­träge (von jeweils unter 100 Euro, bis auf Fall II. 14.: 2.450 Euro) sowie — in den Fällen II. 3. und II. 7. — Kraftfahrzeuge. Letztere nutzte er kurzzeitig für sich, bevor er sie stehen ließ, wobei das Fahrzeug im Fall II. 7. nicht zum Eigentümer zu­rückgelangte, der deshalb eine Versicherungsleistung zum Zeitwert von knapp 35.000 Euro in Anspruch nahm. Die Diebstähle erfolgten in einem Warenhaus, in Kliniken, auf einer Baustelle, in einem Fahrzeug, auf öffentlich zugänglichen Parkflächen sowie in Wohnungen, in die der Beschuldigte einstieg. Einem der Wohnungseinbrüche ging die vorherige Beobachtung des Geschädigten beim Abheben von Bargeld voraus (Tat II. 14.). In vier Fällen (Taten II. 5., 11., 13. und 15.) blieben die Taten unvollendet, weil der Beschuldigte durch die ihn an­treffenden Geschädigten entweder aus dem Fenster geschubst (Tat II. 5.), bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten (Tat II. 11.) oder durch die Drohung, die Polizei zu rufen, zur Flucht bewegt wurde (Tat II. 15.) bzw. er den Tatort ohne Entwendung wieder verließ (Tat II. 13.). Darüber hinaus scheiterte der Beschul­digte in einem weiteren Fall (Tat II. 10.) mit seinem Versuch, in einem Juwelier­geschäft eine Armbanduhr zum Preis von 119 Euro mit einer nicht auf seinen Namen lautenden, gesperrten EC-Karte zu bezahlen, da er die zugehörige PIN nicht kannte.

b) In drei weiteren Fällen führte der Beschuldigte beim Eindringen in fremde Gebäude Körperverletzungshandlungen aus (Taten II. 6., 8. und 12.), wo­bei die Taten außer im Fall II. 12. nicht vollendet wurden.

aa) Am 25. Februar 2023 (Tat II. 6.) drängte sich der Beschuldigte neben einer dort beschäftigten Pflegekraft durch die Eingangstür eines Pflegezentrums. Als die Zeugin ihn aufforderte, weiterzugehen, versuchte er, sie wegzuschubsen, und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht, um sie zu verletzen. Die Zeugin konnte dem Schlag größtenteils ausweichen, was eine kurzfristige leichte Rötung, je­doch keine Schmerzen hervorrief. Als die Zeugin hinter eine Tür floh, die sie ver­riegelte, bekam der Beschuldigte nur noch den von ihr getragenen Regenschirm zu fassen, den er ihr aus Unmut hinterherwarf, sie jedoch nicht traf.

bb) Am 11. Mai 2023 (Tat II. 8.) betrat der Beschuldigte den offenen Haus­flur eines Mehrfamilienhauses, in den eine Postzustellerin folgte, um die Post in die innen gelegenen Briefkästen einzulegen. Als sie den Beschuldigten erblickte, forderte sie ihn auf, das Gebäude zu verlassen, woraufhin dieser sich wortlos so nah vor die Zeugin stellte, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Sodann ging er an ihr vorbei ins Freie, drehte sich auf dem äußeren Treppenabsatz je­doch wieder um und ging mit erhobenen Fäusten auf sie zu, um sie zu schlagen. Die Zeugin versuchte, die Haustür zuzudrücken, was ihr jedoch erst gelang, nachdem sie zuvor ihrerseits den durch den Türspalt tretenden Beschuldigten getreten hatte. Als sie die Tür etwa zehn bis fünfzehn Sekunden später wieder öffnete, hatte der Beschuldigte sich bereits entfernt. Verletzungen oder Schmer­zen erlitt sie nicht.

cc) Am 9. September 2023 (Tat II. 12.) betrat der Beschuldigte gegen 21:30 Uhr den Flur einer Wohneinrichtung, in der er Hausverbot hatte. Als ihn die dort als Nachtwache tätige Zeugin erblickte, forderte sie ihn auf, das Gebäude zu verlassen. Daraufhin richtete sich der Beschuldigte zu voller Größe auf, beugte sich zu der Zeugin herunter und kam ihr mit seinem Gesicht so nahe, dass er sie beinahe berührte. Sodann versetzte er ihr mit dem linken Ellenbogen einen Hieb von vorne gegen den Oberkörper, um sie zu verletzen, und traf sie oberhalb der Brust und unterhalb des Schlüsselbeins. Noch während die Zeugin die Polizei anrief, verließ der Beschuldigte das Haus. Die Zeugin erlitt ein Hämatom im Brustbereich und verspürte ca. eine Stunde Schmerzen.

2. Das Landgericht hat die Taten rechtlich als Wohnungseinbruchsdieb­stahl in Tateinheit mit Sachbeschädigung gemäß § 242 Abs. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4, § 303 Abs. 1 StGB (Fall II. 17. der Urteilsgründe) gewertet, als versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahl in Tateinheit mit Sachbeschädigung gemäß § 242 Abs. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 4, §§ 22, 303 Abs. 1 StGB (Fall II. 15.), als Wohnungseinbruchsdiebstahl gemäß § 242 Abs. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB (Fall II. 14.), als versuchten Wohnungseinbruchsdiebstahl ge­mäß § 242 Abs. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 4, § 22 StGB (Fall II. 5.), als Diebstahl in Tateinheit mit Sachbeschädigung gemäß § 242 Abs. 1, § 303 Abs. 1 StGB (Fall II. 16.), als Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1, § 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Fälle II. 1., 3., 7., 9. und 18.), gemäß § 242 Abs. 1, § 243 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB (Fall II. 2.) und gemäß § 242 Abs. 1, § 243 Abs. 2 StGB (Fall II. 4.), als versuchten Diebstahl gemäß § 242 Abs. 1 und 2, §§ 22, 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Fall II. 11.) und gemäß § 242 Abs. 1 und 2, §§ 22, 243 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB (Fall II. 13.), als Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB (Fall II. 12.), als versuchte Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 und 2, § 22 StGB (Fälle II. 6. und 8.) sowie als versuchten Betrug gemäß § 263 Abs. 1 und 2, § 22 StGB (Fall II. 10.).

3. Wegen dieser nicht ausschließbar im Zustand der Schuldunfähigkeit, sicher aber im Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit begangenen Taten sei der Beschuldigte nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Kranken­haus unterzubringen, weil zu erwarten sei, dass er infolge seines Zustandes wei­tere erhebliche rechtswidrige Taten vergleichbar den Anlasstaten begehen werde. Er besitze keinerlei Empathiefähigkeit, folge unbeeindruckt durch gel­tende Gesetze seinen inneren Impulsen und begehe bei jeder ihm sich bietenden Gelegenheit Straftaten. Gegenüber Personen, die ihm körperlich unterlegen seien, zeige er auch die Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt. Weniger einschneidende Maßnahmen reichten nicht aus, auch stehe die Unterbringung zur Bedeutung der begangenen und zu erwartenden Taten und dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr nicht außer Verhältnis. Insbesondere seien auch weitere Wohnungseinbrüche zu erwarten, die zumindest der mittelschweren Kri­minalität zuzuordnen seien. Eine Aussetzung des Vollzugs der Maßregel komme gleichermaßen nicht in Betracht.

Die ersichtlich auf § 63 Satz 1 StGB gestützte Anordnung der Unterbrin­gung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält revisions­rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die ihr zugrundeliegende Gefährlichkeits-prognose ist nicht ausreichend begründet.

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten auf Grund eines psychi­schen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbege­hung hierauf beruht. Zudem muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft wei­tere erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde, durch die die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Die dazu notwendige Prog­nose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwi­ckeln. Dabei sind an die Darlegungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt — wie hier — um einen Grenz­fall handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2018 — 4 StR 367/18 Rn. 6; Beschluss vom 4. Juli 2012 — 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338 mwN).

2. Daran gemessen, leiden die Ausführungen der Strafkammer zur Ge-fährlichkeitsprognose an Erörterungsmängeln, weil wesentliche Aspekte, die für die Bewertung der Erheblichkeit der von dem Beschuldigten begangenen und damit auch der entsprechend zu erwartenden Taten nicht erkennbar in den Blick genommen worden sind.

a) Zwar ist bei Gewalt- und Aggressionsdelikten regelmäßig davon auszu­gehen, dass sie zu den erheblichen Straftaten in diesem Sinne gehören. Gleich­wohl kann auch hier anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu prüfen und genauer darzulegen sein, ob tatsächlich erhebliche Schädigungen im Sinne von § 63 Satz 1 StGB zu erwarten sind. Einfache Körperverletzungen im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB, die nur mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit lediglich unwesentlich überschreiten, können danach nicht ausreichend sein (vgl. BGH, Urteil vom 8. Oktober 2020 — 4 StR 156/20 Rn. 9; Urteil vom 26. Juli 2018 — 3 StR 174/18, BGHR StGB § 63 Gefähr-lichkeit 37; Beschluss vom 6. März 2013 — 1 StR 654/12 Rn. 19 weitere Nachweise bei Cirener in LK-StGB, 13. Aufl., § 63 Rn. 91). Gleiches muss im Ergebnis auch für Versuchstaten gelten, die von den anvisierten Opfern mit einfachen Mitteln abgewehrt werden können.

Danach wäre unter den hier gegebenen Umständen näher zu erörtern gewesen, dass zwei der festgestellten Körperverletzungstaten (Taten II. 6. und II. 8.) im Versuchsstadium stecken geblieben sind. Auch hätte bewertet werden müssen, welche Umstände für die unterbliebene Vollendung maßgeblich waren. Zudem nimmt die Strafkammer nicht in den Blick, dass alle drei Taten lediglich einfache Körperverletzungshandlungen zum Gegenstand hatten. Auch wird licht erwogen, ob und inwieweit diese Taten zumindest geeignet waren, längerfristige physische oder auch nur psychische Folgen auszulösen. Bei den Opfern 1 den Fällen II. 6., 8. und 12. wurde dergleichen nicht festgestellt. b) Für die Auslegung des Begriffs des schweren wirtschaftlichen Schadens hat die Rechtsprechung — als Ausgangswert — den durch den Gesetzgeber hierfür im Jahr 2016 für vertretbar erachteten Betrag von 5.000 Euro übernommen, betont jedoch in weiterer Übereinstimmung mit der Gesetzesbegründung, lass die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BT-)rucks. 18/7244, S. 21). Daher kann im Einzelfall auch ein geringerer drohender schaden die Gefährlichkeit des Täters begründen — etwa bei einem Wohnungseinbruchsdiebstahl, der das Opfer in der Regel seelisch oder körperlich erheblich gefährdet —, ebenso wie die Gefährlichkeit auch bei höheren Schäden verneint werden kann (vgl. BT-Drucks. 18/7244, S. 21; BGH, Beschlüsse vom 10. August 2022 — 1 StR 234/22 Rn. 11; vom 23. Januar 2018 — 1 StR 523/17 Rn. 3; vom 7. März 2017 — 3 StR 521/16 Rn. 10).

Bei den festgestellten Eigentums- und Vermögensdelikten — die mit fünf­zehn von insgesamt achtzehn Taten das deutliche Übergewicht der Taten bil­den — überschreiten die hiermit verbundenen Schäden lediglich in einem Fall (Tat II. 7.) den oben genannten Richtwert von 5.000 Euro. Den Zeitwert des Fahr­zeugs im Fall II. 3. hat das Landgericht nicht festgestellt; das Fahrzeug gelangte an den Eigentümer zurück. Soweit die Taten nicht zur Vollendung gelangten, ver­halten sich die Urteilsgründe zudem nicht zum inneren Tatgeschehen, ohne dass die jeweilige Annahme eines einem Rücktritt entgegenstehenden Fehlschlags in diesen Fällen — mit Ausnahme der versuchten EC-Karten-Bezahlung (Tat II. 10.) — auf der Hand läge (Taten II. 5., 11., 13. und 15.). Im Zusammen­hang hiermit bleibt gleichfalls unerörtert, dass der Beschuldigte den Geschädig­ten im Fall II. 14. der Urteilsgründe zunächst beim Abheben einer größeren Menge Bargelds beobachtet hatte, aber erst fünf Tage später in dessen Wohnung einstieg, was zu der Annahme der Kammer, der in seiner Impulskontrolle gestörte Beschuldigte begehe „bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit“ Straftaten, in einen nicht aufgelösten Widerspruch tritt und daher gleichfalls zur Erörterung drängte.

3. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Einer Aufhebung der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bedarf es nicht, weil diese von dem zur Aufhebung führenden Rechtsfehler nicht berührt sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Zwar enthält das Urteil keine zusammenhängende Darstellung der Einlassung des Beschuldigten zur Sache und deren Würdigung unter Berück­sichtigung der erhobenen Beweise, was regelmäßig die Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen nach sich zieht (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 — 4 StR 371/20 Rn. 12). Dies ist hier jedoch ausnahmsweise nicht durch­greifend rechtsfehlerhaft, da sich aus dem Gesamtzusammenhang der Urteils­gründe noch hinreichend deutlich ergibt, dass sich der Beschuldigte in der Haupt­verhandlung nicht zur Sache geäußert hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 — 2 StR 416/19). Denn zum Verhalten des Beschuldigten in der Hauptver­handlung teilt die Kammer lediglich mit, dieser habe — durch den Sachverständi­gen als Hinweis auf akustische bzw. optische Halluzinationen gedeutet — ver­mehrt anlasslos gelacht bzw. seinen Blick auffällig durch den Raum schweifen essen. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

Vorinstanz:

Landgericht Bielefeld, 06.09.2024 — 021 KLs 4/24 911 Js 753/23

Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 01.10.2024, Az. III-3 ORs 59/24

Mein Mandant wurde vom Amtsgericht Bielefeld wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von vier Monaten zur Bewährung verurteilt. Die eingelegte Sprungrevision hatte Erfolg.

Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten nur bei besonderen Umstände. Der Gesetzgeber wollte kurze Freiheitsstrafen auf Ausnahmefälle beschränken.

Ein solcher Ausnahmefall ist nach Würdigung des Oberlandesgerichtes auch bei zwei Taten innerhalb von nur zwei Monaten bei einem nicht vorbestraften Angeklagten nicht gegeben.

III-3 ORs 59/24 OLG Hamm
6 SRs 288/24 GStA Hamm
821 Ds 30/24 AG Bielefeld
402 Js 679/24 StA Bielefeld

Im einzelnen führt das oberstes Landesgericht folgendes aus:

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten vom 02. Juli 2024 gegen das Urteil des Amtsgerichtsstrafrichter Bielefeld vom 01. Juli 2024 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 01. Oktober 2024 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht,

den Richter am Oberlandesgericht und

den Richter am Landgericht

nach Anhörung bzw. auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Angeklagten bzw. seines Verteidigers einstimmig beschlossen:

2

1. Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen

  1. im Schuldspruch hinsichtlich der Tat vom 07. Oktober 2023 und
  2. im gesamten Rechtsfolgenausspruch
    aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung — auch über die Kosten der Revision — an eine andere als Strafrichter zuständige Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 01. Juli 2024 wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Zugleich ist ihm die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen worden, dem Angeklagten vor Ablauf von 12 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.

Gegen dieses in Anwesenheit des Verteidigers sowie des Angeklagten verkündete Urteil hat der Angeklagte mit am 02. Juli 2024 beim Amtsgericht Bielefeld eingegangenem Schriftsatz seines Verteidigers vom selben Tage Rechtsmittel eingelegt, welches er — nachdem ihm am 24. Juli 2024 die schriftlichen Urteilsgründe zugestellt worden waren — mit beim Amtsgericht Bielefeld noch am selben Tage eingegangenem Schriftsatz vom 24. Juli 2024 als Revision konkretisiert und zugleich mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts begründet hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 335 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Sprung­revision des Angeklagten führt auf die — in der Sache allein erhobene — Sachrüge hin gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 S. 1 StPO im tenorierten Umfang zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld.

1.

Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (Tat vom 07. Oktober 2023, Ziffer II. a) des Urteils) kann nicht bestehen bleiben, weil die Feststellungen des Amtsgerichts die für die Annahme einer Tat nach § 315c Abs. 1 Nr. la, Abs. 3 Nr. 2 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht tragen.

  1. Nach gefestigter Rechtsprechung muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der — was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiV nachträglichen Prognose zu beurteilen ist — die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (st. Rspr.; vgl. BGH Beschl. v. 2.2.2023 — 4 StR 293/22, BeckRS 2023, 3906 Rn. 2, beck-online mwN; zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 — 4 StR 155/21, juris Rn. 5 mwN).
  2. Nach den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entwickelten Maßstäben genügen die hierauf bezogenen knappen Bemerkungen des Amtsgerichts — „infolge seiner alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit geriet der Angeklagte in den Gegenverkehr und gefährdete hierdurch die Insassen des ihm entgegenkommenden Fahrzeuges, welches auf den Seitenstreifen ausweichen musste“ — nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr. Einen Vorgang, bei dem es beinahe zu einem Unfall gekommen wäre, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH Urt. v. 30. 3. 1995 und Beschl. v. 4. 9. 1995 — jew. aaO; Beschl. v. 26. 7. 2011 — 4 StR 340/11, StV 2012, 217; NStZ 2013, 167, beck-online), hat das Amtsgericht auch nach dem Gesamtzusammenhang ihrer auf das Unfallgeschehen bezogenen Feststellungen — auch soweit man die diesbezüglichen Ausführungen in der Beweiswürdigung (S. 4 UA) mit in die Betrachtung einbezieht, nicht hinreichend mit Tatsachen belegt, so dass die Schlussfolgerung des Amtsgerichts auf das Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandmerkmals nicht nachvollzogen werden kann. Insbesondere fehlen tatsachenfundierte, . konkretisierende Angaben die einen „Beinahe“-Unfall im Sinne der Vorgaben der Rechtsprechung zu den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Zeitpunkt der „Beinahe“-Kollision, etwaige Angaben zur Intensität der drohenden Kollision bzw. Angaben zu Entfernungen der einzelnen Gefährdungsobjekte zueinander (vgl. BGH Beschl. v. 20. 10. 2009 — 4 StR 408/09).
  3. Schließlich lassen sich den Feststellungen in subjektiver Hinsicht auch keine Ausführungen zur fahrlässigen Herbeiführung ebenjener konkreten Gefahr entnehmen.

2.

Die Aufhebung des Schuldspruchs bezüglich der Tat vom 07. Oktober 2023 zieht die Aufhebung des zugehörigen Einzelstrafenausspruchs sowie des Gesamt- und Maßregelausspruchs nach sich.

3.

Auch der Einzelstrafenausspruch bezüglich der Tat vom 10. Dezember 2023 hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

  1. Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatgerichts; ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt (BGH, Urteil vom 16. April 2015 — 3 StR 638/14 —, juris; Urteil vom 2. Februar 2017 —4 StR 481/16 —, juris; Urteil vom 24. Juni 2021 — 5 StR 545/20 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 18. November 2002 — 2 Ss 768/02 —, juris; Beschluss vom 1. März 2018 — 111-5 RVs 129/17          juris). Dabei muss die Begründung des Urteils erkennen lassen, dass die wesentlichen Gesichtspunkte gesehen und in ihrer Bedeutung und ihrem Zusammenwirken vertretbar gewürdigt wurden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22. September 2016 —111-5 RVs 68/16 —, juris). Hiervon ausgehend stellt sich — wie von der Verteidigung zu Recht beanstandet worden ist — die Anwendung des § 47 Abs. 1 StGB als rechtfehlerhaft dar, so dass der Rechtsfolgenausspruch bereits aus diesem Grunde keinen Bestand haben kann.
  2. Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Zur Verteidigung der Rechtsordnung ist die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe erforderlich, wenn ein Verzicht auf selbige im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte

(BGH, Beschluss vom 11. Januar 2001 — 5 StR 580/00 —, juris; Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 47, Rn. 14). Dabei ergeben sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers für eine Beschränkung der kurzen Freiheitsstrafe auf Ausnahmefälle besondere Anforderungen an die Begründung der Sanktionsentscheidung im tatgerichtlichen Urteil (vgl. KG Berlin, Urteil vom 9. Dezember 2003 — (5) 1 Ss 404/03 (69/03) —, juris). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich auf Grund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2018 — III-5 RVs 129/17 —, juris). Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft werden kann, bedarf es mithin einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (OLG Hamm, a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 18. Februar 2003 — Ss 36/03 —, juris). Das Urteil muss dazu eine auf den Einzelfall bezogene, die Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit umfassende Begründung dafür enthalten, warum eine kurzzeitige Freiheitsstrafe unerlässlich ist; dabei muss die Begründung auch erkennen lassen, dass das Gericht sich der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewusst gewesen ist und die besondere Härte der kurzen Freiheitsstrafe im Vergleich zur Geldstrafe in seine Erwägungen einbezogen hat (OLG Hamm, a.a.O.). Formelhafte Wendungen genügen nicht; vielmehr hat der Tatrichter für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen, welche besonderen Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Angeklagten die Verhängung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Angeklagten oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich gemacht haben (OLG Hamm, a.a.O.). Angesichts dessen darf – obgleich bei wiederholter Rückfälligkeit geringere Anforderungen an die Begründungspflicht zu stellen sind (OLG Köln, a.a.O.; von

Heintschel-Heinegg in: BeckOK, StGB, 55. Edition Stand 01.11.2022, § 47, Rn. 4) ­auch aus einschlägigen Vorstrafen und Bewährungsbrüchen nicht schematisch auf

die Unerlässlichkeit im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB geschlossen werden (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 02.04.2012 — 2 (7) Ss 117/12 — AK 50/12, BeckRS 2012, 23871; Kinzig, a.a.O., Rn. 10; von Heintschel-Heinegg, a.a.O., Rn. 12).

c) Diesem Maßstab werden die knappen Ausführungen im angefochtenen Urteils zur Begründung der kurzen Freiheitsstrafe — „Dabei war hinsichtlich der Tat am 10.12.2023 die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 Abs. 1 StGB zur Einwirkung auf den Angeklagten unerlässlich, weil er die Taten nur ca. 2 Monate nach der ersten Tat begangen hat.“ (BI. 5 UA) — nicht gerecht. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Angeklagten bislang und auch bei Tatbegehung nicht vorbestraft war und die Annahme eines Anwendungsfalls des § 47 Abs. 1 StGB aufgrund der sich aus dem Urteil ergebenden sonstigen Umstände im vorliegenden Fall sich ebenfalls nicht aufdrängt.

4.

Die weitergehende Revision war — soweit mit der allgemeinen Sachrüge auch der Schuldspruch im Hinblick auf die Tat vom 10. Dezember 2023 — angegriffen worden ist, als unbegründet zu verwerfen, da die Nachprüfung des Urteils insoweit auch auf Grundlage der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben hat, § 349 Abs. 2 StPO.

5.

Der neue Tatrichter wird im Rahmen der erneuten Verhandlung und Entscheidung im Hinblick auf die Tat vom 07. Oktober 2023 angesichts der hohen Alkoholisierung sowie der geltend gemachten Erinnerungslücken das Vorliegen einer tatzeitbezogenen erheblich verminderten Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB zumindest zu erwägen haben.

Kein Haftbefehl ohne einen Versuch der polizeilichen Vorführung zur Hauptverhandlung

Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss vom 19.03.2024, Ws 188/24

Was passiert eigentlich, wenn ein Angeklagter ohne ausreichende Entschuldigung nicht zur Hauptverhandlung seines Strafverfahrens erscheint? Eine Antwort auf diese Frage gibt § 230 Abs. 2 StPO.

Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.“

In der Praxis wird dieser Gesetzestext von den Gerichten unterschiedlich ausgelegt. Während einige Gerichte einen neuen Termin anberaumen, zu dem sie die polizeiliche Vorführung anordnen, erlassen andere Gerichte direkt einen Haftbefehl. Dies hat für den Angeklagten natürlich erhebliche Folgen. Nach Erlass des Haftbefehls wird der Angeklagte nämlich bis zur nächsten Hauptverhandlung inhaftiert, sobald er von der Polizei aufgegriffen wurde.

Das Amtsgerichts Weiden hat im Verfahren der Staatsanwaltschaft Weiden i.d.Opf., Az.: 215 Js 12159/23, letztere Möglichkeit gewählt und hat direkt einen Haftbefehl erlassen. Hiergegen hat der Angeklagte Rechtsmittel zum Oberlandesgericht Nürnberg eingelegt.

Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, dass der Erlass eines Haftbefehls rechtswidrig war. Ohne den Versuch einer polizeilichen Vorführung sei der sofortige Erlass eines Haftbefehls in der Regel unverhältnismäßig. Dies sei nur in absoluten Ausnahmefällen geboten.

Wurde ein Führerschein von der Polizei sichergestellt, ist eine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) nicht vor dem Verwaltungsgericht geltend zu machen. Zuständig ist das Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft.

Landgericht Hamburg, Beschluss vom 13. November 2019

615 Qs 89/19

2216 Js 657/19

248a Gs 174/19

In dem Ermittlungsverfahren gegen X, geboren in Kolumbien, Staatsangehörigkeit: spanisch,

Verteidiger:

Rechtsanwalt Matthias Kiunka, Reichenberger Straße 33, 33605 Bielefeld,

wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis

beschließt das Landgericht Hamburg – Große Strafkammer 15 – durch die Vorsitzende Richterin

am Landgericht X, die Richterin am Landegerich X und den Richte X am 13. November 2019:

Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts

Hamburg vom 24. September 2019 wird dieser aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Hamburg — Abteilung 248a — zurückverwiesen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu tragen.

Gründe:

Der Beschuldigte befuhr als Führer des Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen HH-XX am 22. Februar 2019 gegen 15:40 Uhr die Köhlbrandbrücke in Hamburg. In der Finkenwerder Straße auf Höhe der Hausnummer 4 wurde er bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle angehalten und u.a. auf seine Fahrerlaubnis hin überprüft. Der Beschuldigte legte zum Nachweis seiner Fahrerlaubnis seinen EU-Führerschein vor. Auf diesem war auf der Rückseite im Feld 12 der Vermerk „…“ eingetragen. Der Beschuldigte gab an, seit etwa fünf Jahren in Deutschland zu leben. Die kontrollierenden Polizeibeamten belehrten den Beschuldigten daraufhin als Beschuldigten im Strafverfahren, da ein Anfangsverdacht für ein Fahren ohne Fahrerlaubnis vorliege. Aus dem Vermerk in Feld 12 des Führerscheins ergebe sich, dass der EU-Führerschein auf Grundlage eines in Kolumbien erteilten Führerscheins erteilt worden sei, dies stelle keine auf dem Gebiet der Bundesrepublik gültige Fahrerlaubnis dar.

Die Polizeibeamten stellten den Führerschein des Beschuldigten „zwecks Kennzeichnung“ sicher. Im Sicherstellungsverzeichnis wurde „§ 14 SOG“ als Rechtsgrundlage der Maßnahme angegeben. Zur Verhinderung der Weiterfahrt stellten die Polizeibeamten außerdem den Fahrzeugschlüssel sicher, den sie dem Halter des Lkw, dem Zeugen Y, später aushändigten.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat mit Verfügung vom 17. Juli 2019 von der weiteren Verfolgung des Beschuldigten abgesehen, weil, so die Staatsanwaltschaft, die Schuld des Beschuldigten als gering anzusehen sei und ein öffentliches Interesse an der Verfolgung nicht bestand. Der Führerschein des Beschuldigten wurde am 26. Juli 2019 an diesen herausgegeben.

Am 2. August 2019 beantragte der anwaltlich vertretene Beschuldigte, ihn für den durch die Strafverfolgung entstandenen Schaden in Form von Verdienstausfall im Zeitraum vom 22. Februar bis zum 26. Juli 2019 zu entschädigen.

Mit dem angegriffenen Beschluss vom 24. September 2019 hat das Amtsgericht Hamburg auf den Entschädigungsantrag den Rechtsweg vor die ordentliche Gerichtsbarkeit für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Hamburg verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass es sich bei der Sicherstellung um eine schwerpunktmäßig präventive Maßnahme der Polizei gehandelt habe, deren Rechtmäßigkeit vom Verwaltungsgericht zu beurteilen sei.

Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, §§ 17a Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 und 3 GVG, 311, 306 Abs. 1 StPO.

1.

Es handelt sich bei dem Antrag des Beschuldigten um einen Antrag auf Entschädigung nach den Vorschriften des Gesetzes über Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG). Für diesen Antrag ist gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 StrEG der Rechtsweg vor das Amtsgericht Hamburg als Amtsgericht am Sitz der Staatsanwaltschaft eröffnet.

Gegen den Beschuldigten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Fahrens ohne Fahrerlaubnis geführt, welches aufgrund einer Ermessensvorschrift durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Der Beschuldigte hat auf die Belehrung durch die Staatsanwaltschaft, dass „in dieser Sache (…) Gegenstände sichergestellt bzw. beschlagnahmt worden“ seien und daher der Beschuldigte auf Antrag möglicherweise für einen entstandenen Schaden nach dem StrEG entschädigt werden könne, einen „Antrag auf Entschädigung“ gestellt und diesen damit begründet, dass dem Beschuldigten durch die Strafverfolgung ein Schaden in Form von Verdienstausfall während der Zeit der Beschlagnahme des Führerscheins entstanden sei. Hieraus ergibt sich hinreichend deutlich, dass der Beschuldigte, trotz des allgemein als „Antrag auf Entschädigung“ bezeichneten Antrages, eine Entschädigung nach den Vorschriften des StrEG begehrt.

Hieran ändert die — nach Auffassung der Kammer zutreffende — Annahme des Amtsgerichts, dass es sich bei der Sicherstellung des Führerscheins des Beschuldigten um eine öffentlich-rechtliche Maßnahme handelte, gegen die der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht bzw. auf Sekundärebene vor die Zivilgerichte gegeben ist (vgl. MüKo-StPO, 1. Auflage 2018, Einleitung Rn. 61 und 62; BeckOK-OWiG, 24. Edition 2019, § 2 StrEG, Rn. 2; jeweils Beck-online), nichts. Dies ist jedoch, bezogen auf einen Antrag auf Entschädigung nach dem StrEG, ebenso wie die Frage, ob dem Beschuldigten vor dem Hintergrund des tatsächlichen Nichtvorliegens einer gültigen Fahrerlaubnis (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 28 FeV, Rn. 48, 51; VG Neustadt, B. v. 19.04.17, 3 L 396/17.NW, BeckRS 2017, 108229, beck-online) überhaupt ein Schaden entstanden sein kann, eine Frage der Begründetheit.

2

Die Kammer sieht sich daran gehindert, die im weiteren Verfahren vom Amtsgericht zu treffende Billigkeitsentscheidung, vgl. § 3 StrEG, selbst zu treffen, da es sich um eine auf die Frage der Rechtswegseröffnung beschränkte sofortige Beschwerde nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG handelt.

3.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.

Die Höhe der Fallpauschalen der Vergütung eines Betreuers bestimmt sich nach § 5 Abs. 3 Satz 2 VBVG. Entscheidend hierfür ist der gewöhnliche Aufenthaltsort. Das Landgericht Bielefeld ist der Auffassung, dass eine ambulant betreute Wohnform nicht mit einem Heim gleichzusetzen ist.

23 T 715/20 — Landgericht Bielefeld

2 XVII 1507/18 T — Amtsgericht Bielefeld

In dem Betreuungsverfahren

für … wohnhaft … Bielefeld,

Beteiligte:

1)            die vorgenannte Betroffene,

2)            Rechtsanwalt … Bielefeld,

Betreuer,

3)            die Landeskasse, vertreten durch den Bezirksrevisor beim Landgericht Bielefeld,

hat die 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld auf die Beschwerde des Beteiligten zu 2) vom 06.11.2020 gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 30.10.2020 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht …, die Richterin am Landgericht Dr. … und den Richter am Amtsgericht … am 22.12.2020 beschlossen:

Eine Entscheidung über die sofortige Beschwerde wird abgelehnt. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Das Beschwerdegericht ist für eine Entscheidung über die Beschwerde nicht zuständig. Denn die Beschwerde ist unzulässig, weil der nach § 61 Abs. 1 FamFG erforderliche Beschwerdewert von über 600,00 Euro nicht erreicht wird. Denn beantragt war eine Vergütung von 1.188 Euro, während die durch den angefochtenen Beschluss festgesetzte Vergütung 846,00 Euro beträgt. Die Beschwer beläuft sich somit auf lediglich 342 Euro.

Das Amtsgericht hat die Beschwerde auch nicht ausnahmsweise zugelassen.

Bei der sofortigen Beschwerde handelt es sich um mithin um eine befristete Erinnerung gem. § 11 Abs. 2 Satz 1 RPfIG, über die das Amtsgericht in eigener Zuständigkeit abschließend zu entscheiden hat.

In der Sache weist die Kammer darauf hin, dass die hier vereinbarte ambulant betreute Wohnform der Unterbringung in einer stationären Einrichtung nicht vergleichbar sein dürfte. Die Voraussetzungen des – vergütungsrechtlichen Heimbegriffs sind nach § 5 Abs. 3 Satz 2 VBVG 1. V. m § 1 Abs. 2 Satz 1 und 3 HeimG nur dann erfüllt, wenn Wohnraum, Verpflegung und tatsächliche Betreuung sozusagen „aus einer Hand“ zur Verfügung gestellt oder bereitgestellt wird (BGH, BtPrax 2019, 73).

Zwar sieht der Vertrag mit der Stiftung B. (BI. 26 ff. SHV) eine Koppelung zwischen der Wohnungsvermietung und der Abnahme von Betreuungsleistungen vor. Die vereinbarten Betreuungsleistungen sind jedoch einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung in einem Heim nicht vergleichbar. Die vermietete Wohnung wird unmöbliert zur Verfügung gestellt und es erfolgt keine Verpflegung. Zudem werden nach § 2.2. Abs. la und Anlage 8 des Vertrages keine Pflegeleistungen, sondern ausschließlich Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe nach 53 ff. SGB XII erbracht. Der Umfang dieser Leistungen liegt mit 10 Wochenstunden deutlich unter dem einer vollstationären Einrichtung. Es besteht nach Anlage 8 des Vertrages zudem keine Versorgungssicherheit bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes und einer eventuellen Pflegebedürftigkeit, weshalb insoweit eine Vertragsanpassung ausdrücklich ausgeschlossen ist.

Wird ein psychisch erkrankter Angeklagter wegen Schuldunfähigkeit nicht verurteilt, dürfen ihm Kosten und Auslagen im Sinne des § 467 Abs. 3 StPO nicht auferlegt werden.

Oberlandesgericht Celle

Beschluss vom 20. Januar 2020

1 Ws 4/20

4 KLs 3/20 Landgericht Bückeburg

507 Js 2674/19 Staatsanwaltschaft Bückeburg

In der Strafsache

gegen  Herrn S.

– Verteidiger: Rechtsanwalt Matthias Kiunka aus Bielefeld –

wegen Körperverletzung u.a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde des Be­schuldigten vom 27. Januar 2020 gegen den Beschluss der I. großen Strafkammer des Landgerichts Bückeburg vom 20. Januar 2020 nach Anhörung der Generalstaatsanwalt­schaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht R., den Richter am Oberlandesgericht F. und die Richterin am Oberlandesgericht W. am 8. Mai 2020 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird die Kostenentscheidung im Beschluss des Landgerichts Bückeburg vom 20. Januar 2020 dahin geän­dert, dass auch die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen von der Landeskasse zu tragen sind.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insofern ent­standenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe:

Durch Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bückeburg vom 11. September 2019 wurde dem Angeklagten zur Last gelegt, am 18. März 2019 eine andere Person beleidigt und vorsätzlich verletzt zu haben.

Das Strafverfahren wurde durch Beschluss des Landgerichts Bückeburg vom 20. Januar 2020 gemäß § 206 a StPO eingestellt, weil der Beschuldigte nach den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen P. in seinem Gutachten vom 17. Dezember 2019 dauerhaft verhandlungsunfähig ist. Das Landgericht hat in seiner Entscheidung ge­mäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Landeskasse aufzuerlegen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seinem als sofortige Beschwerde auszulegenden Rechtsmittel vom 27. Januar 2020.

I.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den angegriffenen Beschluss dahingehend abzuändern, dass der Landeskasse die notwendigen Auslagen des Beschuldigten auferlegt werden.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

Die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen gemäß § 467 Abs. 1 StPO der Staats­kasse zur Last. Die Voraussetzungen für eine davon abweichende Regelung liegen nicht vor.

Die Möglichkeit, gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendi­gen Auslagen abzusehen, besteht nur dann, wenn zum Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, dem Angeklagten die Auslagenerstattung zu versagen (BVerfG Beschluss vom 29. Oktober 2015 -211/R 388/13- juris).

Die Feststellung, dass die Voraussetzungen für eine Rechtsfolge nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO vorliegen, erfordert deshalb eine zweistufige Prüfung. Nach dem Gesetzeswort-laut muss das Verfahrenshindernis zunächst die alleinige Ursache dafür sein, dass der Be­schuldigte nicht verurteilt worden ist. Im Anschluss daran wird dem Gericht ein Ermessen im Rahmen der Auslagenentscheidung eröffnet (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 17. Juli 2014 -1 Ws 283/14- juris). Bei dieser Ermessensausübung ist maßgebend, ob das Verfah­renshindernis bereits vor Anklageerhebung bestand und auch erkennbar war, ohne dass dies in einer tatrichterlichen Hauptverhandlung noch hätte aufgeklärt werden müssen (BGH StraFo 2017, 120 (122); OLG Celle a.a.O. ni.w.N.). Auf ein prozessual vorwerfbares Ver­halten des Angeklagten kommt es hingegen nicht an (OLG Celle a.a.O.).

Im vorliegenden Fall erscheint bereits fraglich, dass allein das Verfahrenshindernis der feh­lenden Verhandlungsfähigkeit einer Verurteilung entgegenstand. Denn aus dem psychiat­rischen Gutachten des Sachverständigen P. vom 17. Dezember 2019 ist zu erse­hen, dass für die angeklagte Tathandlung von einer sicher erheblich verminderten Steue­rungsfähigkeit in Sinne des § 21 StGB, wahrscheinlich auch von einer Aufhebung zumin­dest der Steuerungsfähigkeit in Sinne des § 20 StGB auszugehen ist. Es kann also nicht festgestellt werden, dass es bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses zu einer Ver­urteilung gekommen wäre. Im Übrigen erscheine es jedenfalls im Rahmen der Ermes­sensausübung unbillig, von der Kostenfolge des § 467 Abs. 1 StPO abzuweichen, weil die Verhandlungsunfähigkeit bereits vor Anklageerhebung erkennbar gewesen ist.

Der Beschuldigte leidet seit vielen Jahren an einer schweren schizophrenen Psychose, die letztlich Ursache für die festgestellte Verhandlungsunfähigkeit ist. Er steht seit März 2009 unter gesetzlicher Betreuung. Bei einer einschlägigen Vorverurteilung wurde beim Beschul­digten bereits im Jahr 2012 durch das Amtsgericht Bielefeld eine verminderte Schuldfähig­keit festgestellt. Noch vor Anklageerhebung, bereits am 30. August 2019, war der Staats­anwaltschaft Bückeburg der Aufenthalt des Beschuldigten in einer psychiatrischen Klinik in Dortmund bekannt. Aufgrund dessen hat der zuständige Amtsanwalt mit Verfügung glei­chen Datums um eine Einschätzung der Haftfähigkeit durch die Polizei in Dortmund gebe­ten. Diese Anfrage lief letztlich ins Leere, da der Beschuldigte bereits am 28. August 2019 in Frankfurt am Main festgenommen worden war.

Bei dieser Sachlage kam die Anwendung der Ausnahmeregelung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren folgt aus einer entsprechenden Anwen­dung des § 467 Abs. 1 StPO.

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 Satz 2 StPO).

Ausgefertigt

Celle, 8. Mai 2020

Amtsgericht Prenzlau, Beschluss vom 27.07.2018, Az. 21 OWi 3422 Js-Owi 29660718 (721/18)

Laut dem Amts­ge­richt Prenzlau besteht seitens des Betroffenen eines Geschwindigkeitsvorwurfs ein Anspruch gegenüber der Bußgeldbehörde auf Über­sen­dung des Beschilderungsplans an dessen Verteidiger

Be­schluss

In der
Buß­geld­sa­che

ge­gen
XXX

Verteidiger:
Rechtsanwalt Matthias Kiunka

we­gen
Ver­kehrs­ord­nungs­wid­rig­keit

  • Ge­schwin­dig­keits­über­schrei­tung
    au­ßer­halb ge­schlos­se­ner Ort­schaf­ten –

hat das
Amts­ge­richt Prenz­lau durch den Rich­ter am Amts­ge­richt XXX am 27.07.2018
be­schlossen:

I. Der Zentraldienst der Po­lizei des Lan­des Bran­den­burg – Zent­ra­le Buß­geld­stel­le Gransee – wird an­ge­wie­sen, dem Ver­tei­di­ger ei­ne Ko­pie des für den Messtag 17.03.2018 gül­ti­gen Beschilderungsplans für die Messstelle auf der Bun­des­au­to­bahn 11, km 87,4 in Fahrt­rich­tung Kreuz Uckermark durch Über­sen­dung an die Kanz­lei­an­schrift zur Ein­sicht zur Ver­fü­gung zu stel­len.

II. Die
Kos­ten des Ver­fah­rens auf ge­richt­li­che Ent­schei­dung und die not­wen­di­gen
Aus­la­gen des Be­trof­fe­nen in­so­weit hat die Lan­des­kas­se zu tra­gen.

Grün­de

I.

Der zu­läs­si­ge
An­trag auf ge­richt­li­che Ent­schei­dung ist be­grün­det.

  1. Der
    An­trag auf ge­richt­li­che Ent­schei­dung nach § 62 Abs. 1 OWiG ist zu­läs­sig.
    Bei der Ver­sa­gung von Ak­ten­ein­sicht im Zwi­schen­ver­fah­ren han­delt es
    sich um ei­ne Maß­nah­me der Ver­wal­tungs­be­hör­de, der ei­ne selbst­stän­di­ge
    Be­deu­tung zu­kommt und nicht nur der Vor­be­rei­tung ei­ner das Buß­geld­ver­fah­ren
    ab­schlie­ßen­den Ent­schei­dung dient (Göhler, Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ge­setz,
  2. Aufl., § 62 Rn. 3). Die Akte­nein­sicht dient der Wahr­neh­mung der Rech­te
    durch den Be­trof­fe­nen, nicht hin­ge­gen der Ver­fah­rens­fort­füh­rung durch
    die Ver­wal­tungs­be­hör­de. Zwar kann ge­gen die Ver­sa­gung der Ak­ten­ein­sicht
    ge­mäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 147 Abs. 5 S. 1 StPO nur dann ge­richt­li­che Ent­schei­dung
    be­an­tragt wer­den, wenn die­se nach dem Ver­merk der Ver­wal­tungs­be­hör­de
    über den Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen in den Ak­ten (§ 61 OWiG) er­folg­te
    oder die Ver­wei­ge­rung die Ein­sicht in Nie­der­schrif­ten über die Ver­neh­mung
    des Be­trof­fe­nen und über sol­che Un­ter­su­chungs­hand­lun­gen, bei de­nen
    dem Ver­tei­di­ger die An­we­sen­heit ge­stat­tet wor­den ist oder hät­te ge­stat­tet
    wer­den müs­sen, so­wie Gut­ach­ten von Sach­ver­stän­di­gen be­traf (Karls­ru­her
    Kom­men­tar – Kurz, Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ge­setz, 3. Aufl., § 60 Rn. 103).
    Doch ist vor­lie­gend trotz des Feh­lens ei­nes aktenkundigen Ver­merks nach §
    61 OWiG der An­trag auf ei­ne ge­richt­li­che Ent­schei­dung zu­läs­sig, da für
    die Ver­wal­tungs­be­hör­de durch den Er­lass des Buß­geld­be­schei­des die Er­mitt­lun­gen
    in tat­säch­li­cher und recht­li­cher Hin­sicht ab­ge­schlos­sen wa­ren (vgl.
    Karls­ru­her Kom­men­tar, ebd. § 61 Rn. 2) und die Rech­te des Be­trof­fe­nen
    dann nicht da­durch ein­ge­schränkt wer­den kön­nen, dass die Ver­wal­tungs­be­hör­de
    den von ihr an­ge­nom­me­nen Ab­schluss der Er­mitt­lun­gen nicht auch for­mal
    in der Ak­te ve­rmerk­te.
  3. Der
    An­trag ist be­grün­det. Dem Be­trof­fe­nen steht über sei­nen Ver­tei­di­ger
    ge­mäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 147 Abs. 1 StPO ein recht auf Ein­sicht in den für
    den Mess­tag gel­ten­den Beschilderungsplan der Messstel­le durch Über­sen­dung
    ei­ner Ko­pie an den Ver­tei­di­ger zu.

a) Das
Recht auf Ak­ten­ein­sicht be­zieht sich auf die Ak­ten des Buß­geld­ver­fah­rens.
Hier­zu ge­hö­ren sämt­li­che ver­fah­rens­be­zo­ge­ne Un­ter­la­gen der Ver­wal­tungs­be­hör­de,
die zu den Ak­ten ge­nom­men wor­den sind, auf die der Vor­wurf in tat­säch­li­cher
und recht­li­cher Hin­sicht ge­stützt wird (Göh­ler, ebd., § 60 Rn. 49 m. w.
N.). Die be­trifft al­le seit Be­ginn der Er­mitt­lun­gen we­gen des Ver­dachts
ei­ner Ord­nungs­wid­rig­keit ge­sam­mel­ten be- und ent­las­ten­den Schrift­stü­cke
bzw. sol­cher Un­ter­la­gen u. ä., die ge­ra­de für das Ver­fah­ren ge­schaf­fen
wor­den sind oder dem Ge­richt vor­zu­le­gen wä­ren (Mey­er-Goßner, Straf­pro­zess­ord­nung,

  1. Aufl., § 147 Rn. 13 ff.m. w. N.). Auch beigezogene Ak­ten an­de­rer Be­hör­den
    sind von dem Ein­sichts­recht er­fasst. Aus dem Grund­satz der
    Aktenvollständigkeit er­gibt sich, dass Un­ter­la­gen (Schrift­stü­cke so­wie
    Ton- und Bildaufnahmen), die für den Be­trof­fe­nen als be­las­tend oder ent­las­tend
    von Be­deu­tung sein kön­nen, den Ak­ten nicht ferngehalten wer­den dür­fen, da
    dies ei­ne Ver­let­zung des An­spruchs auf recht­li­ches Ge­hör be­deu­ten wür­de.
    Nicht zu den Ak­ten ge­hö­ren da­ge­gen Hand­ak­ten und an­de­re in­ner­dienst­li­che
    Vor­gän­ge, die im Fall des Ein­spruchs ge­gen den Buß­geld­be­scheid der
    Staats­an­walt­schaft nicht vor­zu­le­gen wä­ren (Göh­ler, a. a. O.).

b) Dem
Be­trof­fe­nen ste­ht ent­spre­chend die­ser Grund­sät­ze ein An­spruch auf Ein­sicht
in den Be­schil­de­rungs­plan durch sei­nen Ver­tei­di­ger zu (vgl. AG Bad
Kissingen ZfSch 2006, 706). Auch wenn die­ser bis­lang kein Be­stand­teil der
Ak­te ist, kann der Be­schil­de­rungs­plan aus dem Grund­satz der Ak­ten­volls­tän­dig­keit
nicht fern­ge­hal­ten wer­den. Aus dem Be­schil­de­rungs­plan kön­nen der Ver­tei­di­ger
und der Be­trof­fe­ne ent­neh­men, wel­che zu­läs­si­ge Höchst­ge­schwin­dig­keit
durch die zu­stän­di­ge Be­hör­de tat­säch­lich für den Messbereich an­ge­ord­net
war.

c) Auf­grund
der wei­ten räuml­ic­hen Ent­fer­nung des Kanzleisitzes des Ver­tei­di­gers in
Min­den zu dem Sitz der Zent­ra­le Buß­geld­stel­le des Lan­des Bran­den­burg
in Gran­see in Ab­wä­gung zu der ge­rin­ge­ren Be­deu­tung der vor­ge­wor­fe­nen
Ord­nungs­wid­rig­keit be­steht aus Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­grund­sät­zen der
An­sp­ruch, dass der Be­schil­de­rungs­plan in Ko­pie zur Ein­sicht dem Ver­tei­di­ger
über­sandt wird.

III.

Die Kos­ten­ent­schei­dung
be­ruht auf §§ 62 Abs. 2 S. 2 OWiG, 467 Abs. 1 StPO.

Keine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen

Land­ge­richt Bie­le­feld

Aktenzeichen 23 T 517/17

Be­schluss vom 12.10.2017

In dem Be­treu­ungs­ver­fah­ren

für XXX

hat die 23. Zi­vil­kam­mer des Land­ge­richts Bie­le­feld auf die Be­schwer­de des Be­tei­lig­ten zu 1) vom 01.06.2017 ge­gen den Be­schluss des Amts­ge­richts Bie­le­feld (Az. 2 XVII 763/17 L) vom 17.05.2017 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Land­ge­richt XXX am 12.10.2017

be­schlos­sen:

Der an­ge­foch­te­ne Be­schluss wird auf­ge­ho­ben.

Grün­de:

Mit Schrei­ben vom 12.04.2017 reg­te das XXX die Ein­rich­tung ei­ner Be­treu­ung an. Das Amts­ge­richt hat zur Fra­ge, ob für den Be­trof­fe­nen ei­ne Be­treu­ung ein­zu­rich­ten ist, mit Be­schluss vom 04.05.2017 die Ein­ho­lung ei­nes Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens an­ge­ord­net. Der Sach­ver­stän­di­ge XXX (Fach­arzt für Psy­chia­trie und Psy­cho­the­ra­pie) in Bie­le­feld hat un­ter dem 16.06.2017 sein schrift­li­ches Gut­ach­ten er­stat­tet. Das Amts­ge­richt hat so­dann durch den an­ge­foch­te­nen Be­schluss im We­ge ei­ner einst­wei­li­gen An­ord­nung ei­ne vor­läuf­i­ge Be­treu­ung für den Be­trof­fe­nen mit den Auf­ga­ben­krei­sen „Ge­sund­heits­für­sor­ge, Auf­ent­haltsbestimmung, Woh­nungs-, Heim- und Ver­mö­gens­an­ge­le­gen­hei­ten so­wie Ver­tre­tung ge­gen­über Be­hör­den und Leis­tungs­trä­gern“ ein­ge­rich­tet und die Be­tei­lig­te zu 2) vor­läu­fig zur Be­treu­e­rin be­stellt. Fer­ner wur­de be­stimmt, dass die vor­läu­fi­ge Betreuerbestellung am 17.11.2017 en­det, wenn sie nicht vor­her ver­län­gert wird.

Ge­gen die­se Ent­schei­dung hat der Be­trof­fe­ne am 01.06.2017 Be­schwer­de ein­ge­legt. Das Amts­ge­richt hat den Be­trof­fe­nen am 09.08.2017 nach­träg­lich per­sön­lich an­ge­hört, der Be­schwer­de nicht ab­ge­hol­fen und die Sa­che dem Land­ge­richt zur Ent­scheid­ung vor­ge­legt.

Die Kam­mer hat den Be­trof­fe­nen im Be­schwer­de­ver­fah­ren am 05.09.2017 er­neut per­sön­lich an­ge­hört.

Die Be­schwer­de ist ge­mäß § 58 Abs. 1 FamFG statt­haft so­wie frist­ge­recht und form­ge­recht ein­ge­legt. Das Rechts­mit­tel ist auch be­grün­det, denn die Vo­raus­set­zun­gen für die Ein­rich­tung ei­ner vor­läu­fi­gen Be­treu­ung lie­gen nicht mehr vor.

Ge­mäß § 300 Abs. 1 Satz 1 FamFG kann das Ge­richt durch einst­wei­li­ge An­ord­nung ei­nen vor­läu­fi­gen Be­treu­er be­stel­len, wenn drin­gen­de Grün­de für die An­nah­me be­ste­hen, dass die Vo­raus­set­zun­gen für die Be­stel­lung ei­nes Be­treu­ers ge­ge­ben sind und ein drin­gen­des Be­dürf­nis für ein sofor­ti­ges Tä­tig wer­den be­steht. Letz­te­res ist nur der Fall, wenn das Ab­war­ten bis zur end­gül­ti­gen Ent­schei­dung für den Be­trof­fe­nen er­heb­li­che Nach­tei­le zur Fol­ge hät­te. Die­se Vo­raus­set­zun­gen sind hier nicht mehr ge­ge­ben.

Die ge­sund­heit­li­che Ver­fas­sung des Be­trof­fe­nen hat sich mitt­ler­wei­le sta­bi­li­siert. Die am­bu­lan­te und me­di­ka­men­tö­se Ver­sor­gung durch den Haus­arzt so­wie die häus­li­che Ver­sor­gung sind si­cher­ge­stellt. Nach Mit­tei­lung der Be­treu­e­rin ist in den an­ge­ord­ne­ten Auf­ga­ben­krei­sen der­zeit ein un­auf­schieb­ba­rer Re­ge­lungs­be­darf nicht ge­ge­ben. Die re­gel­mä­ßi­ge Ga­be und Kon­trol­le der von dem Be­trof­fe­nen be­nö­tig­ten Me­di­ka­men­te (bei be­ste­hen­der Herz- und Nie­ren­schwä­che so­wie Atems­tö­rung) durch ei­nen am­bu­lan­ten Pfle­ge­dienst ist bis­lang am Wi­der­stand des Be­trof­fe­nen ge­schei­tert. Die Be­treu­e­rin sieht der­zeit aber in­so­weit auch kei­nen Hand­lungs­be­darf. Die häus­li­che Ver­sor­gung ist nach den Ein­drü­cken bei der per­sön­li­chen An­hö­rung un­ein­ge­schränkt ge­währ­leis­tet. In den üb­ri­gen Auf­ga­ben­krei­sen hat sich nach Mit­tei­lung der Be­treu­e­rin bis­lang kein aku­ter Hand­lungs­be­darf er­ge­ben.

Ge­mäß § 1896 Abs. 1 BGB darf von Amts we­gen für ei­nen Voll­jäh­ri­gen ein Be­treu­er nur be­stellt wer­den, wenn er auf­grund ei­ner psy­chi­schen Krank­heit oder ei­ner geis­ti­gen oder see­li­schen Be­hin­de­rung sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten ganz oder teil­wei­se nicht be­sor­gen kann. Er­folgt die Ein­rich­tung der Be­treu­ung – wie hier – ge­gen den Wil­len des Be­trof­fe­nen, so ist die zu­sätz­li­che Fest­stel­lung er­for­der­lich, dass die­ser auf­grund der fest­ges­tell­ten psy­chi­schen Krank­heit, geis­ti­gen oder see­li­schen Be­hin­de­rung sei­nen Wil­len nicht frei be­stim­men kann.

Ob die­se Vo­raus­set­zun­gen hier nach wie vor ge­ge­ben sind, er­scheint zwei­fel­haft. Nach dem fach­ärzt­li­chen Gut­ach­ten vom 16.06.2017 be­steht zwar der Ver­dacht ei­ner be­gin­nen­den De­men­zer­kran­kung. Bei der Ex­plo­ra­ti­on durch den Sach­ver­stän­di­gen be­stan­den deut­li­che Kon­zen­tra­tions- und Auf­fas­sungss­tö­run­gen so­wie Orien­tie­rungss­tö­run­gen im zeit­li­chen Be­reich. Das Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis war ge­stört. Mög­li­cher­wei­se war dies aber noch Fol­ge des im Ap­ril/Mai nach ei­ner schwe­ren kar­dia­len De­kom­pen­sa­tion auf­ge­tre­te­nen De­lirs. Bei der An­hö­rung durch die Kam­mer wa­ren da­ge­gen kei­ne Kon­zen­tra­tions- und Ge­dächt­niss­tö­run­gen oder sons­ti­ge Auf­fäl­lig­kei­ten fest­stell­bar. Der Zu­stand des Be­trof­fe­nen er­schien ins­ge­samt deut­lich ver­bes­sert und sta­bil. So­fern das Be­treu­ungs­prü­fungs­ver­fah­ren fort­ge­führt wird, müss­te da­her ei­ne wei­te­re Ab­klä­rung im Rah­men ei­ner Nach­be­gut­ach­tung er­fol­gen.

Ge­mäß § 1896  Abs. 2 BGB darf die Be­treu­ung fer­ner nur für sol­che Auf­ga­ben­krei­se an­ge­ord­net wer­den, in de­nen ein kon­kre­ter Be­treu­ungs­be­darf be­steht. Dies ist nach den Fest­stel­lun­gen im Be­schwer­de­ver­fah­ren ak­tu­ell al­len­falls im Be­reich der Ge­sund­heits­für­sor­ge er­sichtl­ich. Ge­ge­be­nen­falls be­darf es da­her auch in­so­weit noch wei­te­rer Er­mitt­lun­gen.

Rechts­mit­tel­be­leh­rung:

Ge­gen die­se Ent­schei­dung ist kei­n wei­te­res Rechts­mit­tel mehr ge­ge­ben (§ 70 Abs. 4 FamFG).